Fabricius, Dirk/Kobbe, Ulrich (Hrsg): Asozial – dissozial – antisozial. Wider die Politik der Ausgrenzung. 2023. Pabst
Mit den Diagnosen dissoziale beziehungsweise antisoziale Persönlichkeitsstörung sowie dem Psychopathiekonzept bietet die forensische Psychiatrie der Strafjustiz eine passende Anschlussstelle und der Öffentlichkeit einfache Erklärungen für bösartiges Verhalten. Mit dem vorliegenden Buch stellen sich die Herausgeber sowie die dort versammelten AutorInnen dem entgegen und erklären in 18 Artikeln, warum diese Diagnosen soziale Konstrukte mit sozialer Ausschlussfunktion sind, die dem Einzelnen seine Krankheit als Schuld anlasten, statt pathologisches Geschehen abzubilden.
Menschen mit den eingangs erwähnten pathologischen Diagnosen gelten in der Regel als voll schuldfähig, wie Böllinger in seinem Artikel kritisiert, und landen häufig in der Sicherungsverwahrung, obschon sie, wie Kriz ausführt, vor allem soziale Anpassungsstörungen zeigen. Letztlich leiten sich diese Diagnosen aus dem – delinquenten – Verhalten ab, vermeintlich beweist ihr Verhalten zirkulär die Krankheit. Wer aber empathielos ist, dürfte nicht schuldfähig sein, wie Fabricius betont; er hält die Annahme der Existenz von Psychopathen für einen „Tatsachenirrtum“.
Die historische Herkunft der Begrifflichkeiten aus dem Nationalsozialismus und das Fortwesen des „zu beamtshandelnden Objekts des/der Asozialen“ (Amesberger et al.) im heutigen Medizin- und Fürsorgediskurs werden in einem Aufsatz beleuchtet – ebenso wie die Diskussion, dass die behandelten Diagnosen kein Individual-, sondern „Klassenschicksal“ (Böning) sind.
Kobbe setzt in mehreren Artikeln einen Schwerpunkt auf die psychoanalytischen Herleitung dieser Störungsbilder sowie der Bedeutung des von ihm so bezeichneten „Psy-Bereichs“ für die Justiz und die Gesellschaft. Er befasst sich mit Textaussagen von als Psychopathen gekennzeichneten Tätern sowie der Annahme, dass die normale Bevölkerung besonders empathisch sei. Zudem sei diese Diagnose äußerst stigmatisierend für die so Bezeichneten und verhindere jedwede therapeutische Intervention. Eine pathologische Diagnose, die aber dem Tätersubjekt jegliche Verantwortung seines Verhaltens, auf dem diese Diagnose basiert, zuschreibt, wirke „depsychologisierend“. Da als krank charakterisiert, kann der Betroffene hierfür auch keine Verantwortung übernehmen, beispielsweise in einer Therapie. Mit Lacan versucht Kobbe zu begründen, dass die Psychopathie am ehesten im psychotischen Spektrum liege und damit eine „soziale Psychose“ sei – ohne Grundkenntnisse der Lacanschen Theorie helfen auch die etwas wirren Zeichnungen, die den Text begleiten, kaum weiter.
Klopf kritisiert am Beispiel des österreichischen Maßnahmevollzugs die „Psychiatrisierung als Entpolitisierung“, die den Blick auf soziale Konflikte verstellt und dem Psychiater die Rolle des obersten Richters zuteilt. Engelbert und Adam widmen sich einer Archäologie der antisozialen Persönlichkeitsstörung in den Diagnosemanualen DSM und ICD über die verschiedenen Ausgaben hinweg, und stellen die These auf, dass diese Störungen eher „die Identität von Inhaftierten“ bezeichnen als eine nosologische Kategorie. Frances, Mitherausgeber der DSM-Reihe bis zur vierten Version, der später vor allem mit seiner Kritik an der Psychiatrisierung weiter Bereiche durchaus normaler menschlicher Emotionen bekannt wurde, kritisiert, wie der Aufstieg der Diagnose Sexually Violent Predator in den USA die juristische Unhaltbarkeit psychiatrischer Diagnosen belegt und zu illegalem Freiheitsentzug Betroffener führt.
Hahn und Pohl versuchen, einen Ansatzpunkt für die soziale Arbeit zu finden, Menschen nicht erneut zu stigmatisieren, sondern die situativen sozialen Kontexte zu betrachten. Das Buch schließt mit einer Würdigung des in der Forensik meist negativ verwendeten Begriffs der Anpassungsleistung durch Gnoth.
Insgesamt ein äußerst lohnenswertes Buch, das jedoch ohne Kenntnisse psychiatrischer Diagnostik und psychoanalytischer Grundkategorien kaum verständlich wäre. Einige Artikel erhalten durch eine Vielzahl von Abkürzungen, die überflüssig erscheinen, einen geradezu dadaistischen Anstrich. Für alle, die sich mit der Thematik befassen wollen, mit den als antisozial gekennzeichneten Menschen in Forensik und sozialer Arbeit zu tun haben beziehungsweise sich allgemein für die Verflechtung von Psychiatrie und Strafrecht interessieren, ist der vorliegende Band jedoch unverzichtbar. Die AutorInnen stellen Fragen, die die aktuelle Forensik und Strafjustiz nicht beantworten können und widersetzen sich allen einfachen Erklärungen und Schuldzuweisungen.
Maren Michels